Migranten und Expats: „Eine Bereicherung für die deutsche Gesellschaft“
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Migranten und Expats: „Eine Bereicherung für die deutsche Gesellschaft“Fünf Prozent der Bevölkerung haben türkische Wurzeln: Die meisten leben schon lange hier, gut 15 Prozent sind junge Expats. Sie alle arbeiten in und für Deutschland. Es ist daher Zeit für ein neues Narrativ, findet ZIS-Vorsitzender Ali Eliş.
Migranten und Expats: „Eine Bereicherung für die deutsche Gesellschaft“ / Quelle: ZIS Bremen (Others)
27. Februar 2025

Rund 1,5 Mio. Menschen in Deutschland haben die türkische Staatsangehörigkeit. Lässt man die Nationalität außer Acht, sind es sogar 3 bis 4 Mio. Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die aktuell in Deutschland leben. Das sind rund 5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Große türkische Communities gibt es vor allem in deutschen Großstädten wie Berlin, Köln oder Frankfurt. Homogen ist die türkische Bevölkerung in Deutschland deshalb noch lange nicht: Rund 85 bis 90 Prozent bezeichnen sich gemeinhin als „Migranten“, also Menschen, die im Rahmen der Gastarbeiterbewegung der 1960er und 1970er Jahre nach Deutschland gekommen sind, sowie ihre Nachkommen.

Die übrigen 10 bis 15 Prozent sind sogenannte Expats, also zugezogene Fachkräfte, meist Akademiker, aber auch Studierende und Geschäftsleute, die durch internationale Unternehmen oder bilaterale Programme nach Deutschland kommen. Doch wie unterschiedlich sich diese Gruppen – Migrantenfamilien und zugezogene Expats – untereinander erleben und nicht zuletzt auch im Zusammenspiel mit Deutschen wahrnehmen, so ähnlich sind sie sich doch auch in vielen Aspekten.

Die Mission: Integration fördern, Eigenständigkeit bewahren

So jedenfalls der Erfahrungswert von Ali Eliş, der als Vorsitzender das Zentrum für Migranten und Interkulturelle Studien (ZIS) im Land Bremen leitet. „Das ZIS ist eine interkulturelle Organisation“, erklärt Eliş. Er selbst hat es 1981, vor fast 45 Jahren, mitgegründet, um sich für eine bessere Integration der in Bremen lebenden Migranten einzusetzen. „Bei gleichzeitiger Wahrung ihrer kulturellen Eigenständigkeiten“, wie er betont.

So ist es für die unabhängige, gemeinnützige und überparteiliche Organisation sehr wichtig, dass Migranten und Expats ihre Muttersprache und Kultur in Deutschland weiter pflegen können. „Unsere Haltung ist, dass dies eine Bereicherung für die interkulturelle, deutsche Gesellschaft darstellt“, so Eliş. Dass es in Deutschland vielerorts auch eine gegenteilige Auffassung gibt, ist ihm klar. Dieser Entwicklung will er mit seiner Arbeit bewusst entgegensteuern. „Interkulturelle Vielfalt ist Reichtum für eine Gesellschaft“ Das Zentrum betreut Menschen mit unterschiedlichsten Migrationshintergründen. Die Religion spielt keine Rolle: „Wir haben russischstämmige, syrische, indische und sogar südamerikanische Mitglieder beim ZIS Bremen“, schildert der Vorsitzende. Unter dem Dach dieses Trägers arbeitet seit den 1990er Jahren auch das Institut für Türkisch-Deutsche Zusammenarbeit (TID). Mit Fokus auf Türkiye setzt es sich für eine bessere Förderung und Integration von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund ein.

Und das tut man von Bremen aus in beiden Ländern: Die 1998 ins Leben gerufene Städtepartnerschaft mit Izmir ist eines von mehreren Vorzeigeprojekten, auf das Eliş besonders stolz ist. Ebenso auf ein Pilotprojekt, bei dem 600 bedürftige Straßenkinder aus Izmir über zwei Jahre hinweg in Kliniken, Beratungsstellen und Werkstätten betreut wurden und Übernachtungsmöglichkeiten erhielten.

Helfer in der Not: Muttersprachliche Fachkräfte

Doch auch hierzulande bewegt das TDI viele Dinge: Allein 2024 hat das Institut mehr als 520 Beratungen durchgeführt. Die Spanne der Berater ist breit gefächert: von Psychologen, Therapeuten und Pädagogen bis hin zu Sozial- und Kulturwissenschaftlern ist alles dabei. Sie alle sind in der Lage, in den jeweiligen Muttersprachen zu beraten. „Die Menschen, die zu uns kommen, erhalten nicht nur Hilfe im Alltag wie Verbindungen zu Ärzten und Behörden, sondern auch andere Formen der Unterstützung wie etwa Tagesbetreuung oder Plätze bei Pflegeeinrichtungen oder Altenhilfeträgern beispielsweise“, fasst Eliş zusammen und führt aus: „Überall dort, wo sich Migranten und Expats mit der deutschen Sprache und Bürokratie schwertun, können sie diese Hürden mit unserer Hilfe einfacher überwinden. Muttersprachliche Fachkräfte beraten und unterstützen diese Menschen vor Ort.“ Die Zielgruppe ist groß: Allein in Bremen wohnen 55.000 Menschen mit Migrationshintergrund. Diese werden vom ZIS in vier Zentren betreut. „Wir wenden dabei Methoden der interkulturellen Pädagogik an“, erklärt der Experte, der nach seiner jahrelangen Arbeit zu der Überzeugung gekommen ist. „Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen wollen grundsätzlich gerne durch Bildung, Beratung und Begegnung integriert werden.“ Er sieht sich selbst als Brückenbauer.

Im Überblick: Unterstützungsformate für Migranten & Expats

Ohne Frage: Die Arbeit von ZIS und TDI könnte zum Rollenvorbild werden – für andere, deutsche Städte, die ähnliche Wege gehen wollen wie Bremen. „Wir engagieren uns innerhalb des Landes und der Stadt Bremen vor allem auf Ebenen wie der Senioren-, Frauen- und Jugendarbeit. Mit Integrationskursen setzen wir zudem auch auf Bildung“, fasst Eliş die Arbeitsschwerpunkte zusammen.

Bis zur Pandemie hat das ZIS Bremen mehr als 16 Integrationskurse mit täglich bis zu 300 Menschen durchgeführt – darunter Prüfungen und Zertifikate, aber auch kommunale Deutschkurse zur Alltagssprache. „Unsere Ressourcen sind 8 feste und 22 freie Mitarbeiter, die uns als mehrsprachige Fachkräfte Zugang zu den verschiedenen Gruppen erleichtern“, beschreibt der ZIS-Vorsitzende die Personalsituation. Durch den besonders hohen Zulauf von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund ist Türkisch die in seinem Team am häufigsten benötigte und auch gesprochene Sprache.

Ein neues Narrativ gegen die gespaltene Gesellschaft

Trotz all dieser Bemühungen in Bremen ist die deutsche Gesellschaft dem interkulturellen Experten zufolge derzeit stark gespalten: „Auf der einen Seite will man Fachkräfte, Ingenieure, AI-Experten und Wissenschaftler ins Land holen. Auf der anderen Seite gibt es den neuen Rechtsradikalismus", sagt er und plädiert: „Dieser Entwicklung müssen wir als Demokraten und humane Menschen entgegentreten, damit wir nicht so eine Situation wie in Österreich bekommen.“ Ein neues Narrativ sieht er als möglichen Lösungsweg: „Es geht darum zu verstehen und auch öffentlich zu kommunizieren, dass sowohl Migranten als auch Expats Bestandteil unserer Gesellschaft sind. Die Gastarbeiter-Generation der Migranten trägt bereits seit über 60 Jahren zum Aufbau von Deutschland bei.“ Als Belege führt er beispielhaft an: 16 Mrd. Euro, welche zugewanderte Menschen zwischen 2013 und 2016 in die gesetzlichen deutschen Krankenkassen eingezahlt haben. „Davon haben diese jedoch nur die Hälfte als Gegenleistung erhalten, z.B. in Form von Krankenhausaufenthalten oder Medikamenten. Die restlichen 8 Mrd. Euro Reingewinn sind in den deutschen Kassen verblieben.“

Bemerkenswert findet Eliş auch: „130.000 der 410.000 Ärzte in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Das sind rund 30 Prozent.“ Solche positiven Beispiele hält er für essentiell, damit der Diskurs um Migranten und Expats eine andere Richtung nimmt: „Die demokratisch orientierten Parteien müssen jetzt sehr aktiv handeln“, fordert er mit Blick auf die rechtsradikalen Bestrebungen in Deutschland.

„Migranten und Expats sind Teil der europäischen Kultur“

Durch seine jahrzehntelange Arbeit beim ZIS Bremen kennt der Experte die unterschiedlichen Lebensrealitäten beider Gruppen: „Die Menschen, die seit den 1960er Jahren im Rahmen der Arbeitsmigration aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, haben teils weniger Schulbildung und sind konservativer und ängstlicher. Sie hatten jedoch nie Angst zu arbeiten. Ihre Familien haben die deutsche Kultur genossen, die hiesige Pädagogik und gute Bildung erfahren. Viele ihrer Kinder studieren hier an Universitäten und schaffen tolle Arbeit für dieses Land“, sagt Eliş, der sich als Zeitzeuge sieht.

Die gleiche Anerkennung und Wertschätzung muss man heute auch jungen Expats entgegenbringen, findet er: „Diese neue Generation von ausgebildeten Fachkräften hat Mut und bringt Qualität ins Land. Mit der bewussten Wahl, trotz rassistischer Bewegungen nach Deutschland zu kommen, hier zu studieren oder ihren Beruf auszuüben, zeigen Expats, dass sie in Deutschland etwas bewegen und erreichen wollen.“ Die Englisch- und Deutschkenntnisse dieser jungen Elite seien oftmals hervorragend. In erster Linie gehe es also darum, in Deutschland eine Migrantenfreundlichkeit auszubilden und die Integration beider Gruppen zu fördern und nicht darum, auf Spannungen zu fokussieren.

Ideen für eine bessere Integration in die deutsche Gesellschaft

Wie kann das in Zukunft gelingen? „Indem wir auf unsere universalen Gemeinsamkeiten fokussieren“, führt Eliş weiter aus. Er setzt in seinem Aktionsradius des ZIS Bremen auf vielfältige Aspekte der Integrationsarbeit: Sprachenbildung, Sprachcafés, Musik, Konzerte und Theater, aber auch Städtepartnerschaften, die Begegnungen schaffen und vertiefen. Er berichtet über Ausstellungsprojekte zum Thema „Feste feiern“, in denen Frauen zusammen erforschen, was sie verbindet. „Dabei wurde unseren Teilnehmerinnen klar, dass sie im Grunde alle dasselbe wollen: bessere Kindergärten, Schulen und Arbeitsplätze beispielsweise; ein neues Schwimmbad für die Kinder und gemeinsam Feste feiern.“

In einem weiteren Projekt führte das ZIS Deutsche und Migranten zusammen nach Bremerhaven zum „Auswandererhaus“, einem Museum, das die deutsche Auswanderung vom 19. Jahrhundert bis heute dokumentiert. Sinn und Zweck der Initiative: „Wir wollten zeigen, dass auch Deutsche auswandern, z.B. nach Amerika. Auswanderungen gibt es nämlich in vielen Gesellschaften. Es geht darum, einander zu verstehen, uns zu öffnen und mit der Gesellschaft zu arbeiten.“ Überhaupt: Wenn man pädagogisch arbeite, seien die Möglichkeiten unendlich, fasst der Experte zusammen.

Er sieht Chancen für eine verbesserte Integrationsarbeit – sowohl auf Ebene der Kommunen als auch in der Bundespolitik. Für 2025 plant das ZIS Bremen unter anderem. die Entsendung einer Delegation nach Gaziemir. „In diesem Stadtteil von Izimir befinden sich Freihandelszonen, in denen mehrere deutsche Firmen angesiedelt sind. Die Firma Bosch beschäftigt dort z.B. 4000 Mitarbeiter“, weiß Eliş. „Bei unserem Modellprojekt können sich die Wirtschaftsvertreter besser kennenlernen.“ Deutsche Firmen können auf diese Weise in Türkiye zukünftig besser Fuß fassen, so die Hoffnung. Auch in der Bundesrepublik seien bereits viele Firmen türkischstämmiger Unternehmer tätig, bei denen derzeit rund 500.000 Menschen Arbeit finden.

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