Am kommenden Sonntag finden in Deutschland vorgezogene Bundestagswahlen statt. Diese Wahl gilt als wegweisend für die Zukunft des Landes. Im Vergleich zum vergangenen Jahrzehnt stehen die Vorzeichen diesmal völlig anders: Während die christlich-konservative CDU/CSU mit Kanzlerkandidat Friedrich Merz als klarer Favorit ins Rennen geht, gibt es zahlreiche innen- und außenpolitische Faktoren, die die deutsche Politik derzeit prägen.
Innenpolitisch ist das Land gespalten – eine aufgeheizte Stimmung und polarisierende Debatten bestimmen den Diskurs. Besonders die rechtsextreme Stimmungsmache spielt eine zentrale Rolle. Zudem sorgt ein aktiver Einfluss der USA auf den Wahlkampf für Diskussionen.
Auch auf internationaler Ebene befindet sich das globale System in einer Zeitenwende. Spätestens seit der Münchner Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende sollte dies allen deutschen Politikern bewusst sein. Vor diesem Hintergrund kommt den Wählerinnen und Wählern eine besondere Verantwortung zu: Ihre Entscheidung am Sonntag wird maßgeblich die Richtung bestimmen, in die Deutschland steuert.
Steigende Zustimmung für die AfD
Seit 2017 ist die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) im Bundestag vertreten. Die darauffolgende Wahl 2021 sowie die bevorstehende Abstimmung zeigen: Die AfD hat sich in der deutschen Politiklandschaft etabliert. Mit rund 20 Prozent in den Umfragen liegt sie derzeit auf Platz zwei hinter der CDU/CSU und damit vor den Regierungsparteien SPD, Grünen und FDP. Besonders die FDP steht unter Druck – sie muss um den Wiedereinzug ins Parlament bangen, da sie in Umfragen teils unter der Fünf-Prozent-Hürde liegt.
Doch warum sind viele Bürger unzufrieden mit der aktuellen Bundesregierung, und weshalb wenden sich immer mehr Wähler der AfD zu?
„Die AfD profitiert von einer allgemeinen Krisenstimmung, die sich aus einer Mischung objektiver Fakten und subjektiver Wahrnehmungen speist“, erklärt Politikwissenschaftler Uli Brückner, Professor am Berliner Center der Stanford University, in einem exklusiven Gespräch mit TRT Deutsch. Zu den objektiven Faktoren zählt der Experte den Ukraine-Krieg und die schwache Wirtschaftsentwicklung im Land. Subjektive Elemente seien hingegen die „Glorifizierung der Vergangenheit“, eine wachsende „Zukunftsangst“ und das Gefühl des „Abgehängtseins“ innerhalb der Bevölkerung.
Tatsächlich ist Letzteres – das Gefühl des „Abgehängtseins“ – besonders in Ostdeutschland weit verbreitet. Laut Ökonom Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut ist das Wahlverhalten vor allem vom Ost-West-Gefälle geprägt. Die Unzufriedenheit mit der Regierung, besonders in den Bereichen Migration, Energie und Klimaschutz, treibt viele Wähler zur AfD. Besonders stark ist sie in „Transformationsregionen“ mit industriellem Wandel, wo die Angst vor Jobverlust hoch ist. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) wächst die AfD-Zustimmung in Regionen mit älterer Bevölkerung, hoher Jugendarbeitslosigkeit, vielen Handwerksbetrieben und einer signifikanten ausländischen Bevölkerung. „Die AfD wird mehr von Männern als von Frauen favorisiert. Differenziert nach Alter weist die AfD den größten Rückhalt in der Gruppe der 45- bis 59-Jährigen auf, hingegen Jüngere und Ältere wählen die AfD weniger“, untermauert Politikwissenschaftler David F. J. Campbell, Privatdozent an der Universität Wien, in einem exklusiven Gespräch mit TRT Deutsch. „Die AfD bedient erfolgreich die Erzählung vom ‚Versagen‘ der ‚Altparteien‘ und emotionalisiert die Debatte, statt konkrete und praktikable Lösungen zu präsentieren“, kritisiert Brückner gegenüber TRT Deutsch darüber hinaus die Vorgehensweise der Partei.
Externer Einfluss aus den USA
Ein zentrales Thema im politischen Diskurs vor der Bundestagswahl ist die „Brandmauer“ zur AfD. Bisher galt jegliche Zusammenarbeit mit der Partei als Tabu. Doch die Abstimmung über das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz Anfang Februar, das letztlich abgelehnt wurde, zeigte, wie aufgeheizt die innenpolitische Lage ist. Innerhalb der CDU führte die Debatte zu Spannungen, da nicht alle Parteimitglieder das Migrationsgesetz unterstützten. Der Druck, insbesondere von SPD und Grünen, war groß – beide Parteien warnten eindringlich vor einem Bruch der Brandmauer.
Doch dabei sollte es nicht bleiben. Externe Akteure spielen bei diesen Wahlen eine bedeutende Rolle. Während Russland immer wieder beschuldigt wird, sich in innenpolitische Angelegenheiten einzumischen, sind es nun die USA, die sich aktiv in den Bundestagswahlkampf einbringen. „Trumps Team mischt sich aktiv zugunsten der AfD in den deutschen Wahlkampf ein“, erklärt Brückner gegenüber TRT Deutsch. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist das Interview des US-Techmilliardärs und X-Besitzers Elon Musk mit der AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel im Januar. Die amerikanische Einmischung in den derzeit laufenden Wahlkampf in Deutschland ist erstaunlich. Im Gegensatz zu anderen Kandidaten erhielt Weidel die Gelegenheit, sich auf einer internationalen Plattform mit einer der einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt zu präsentieren. Doch es blieb nicht bei dem Interview: Musk schaltete sich später auch live bei einer Wahlkampfveranstaltung der AfD zu und sprach sich deutlich für die Partei aus. Seine Botschaft an die Deutschen lautete sinngemäß: Sie sollten sich nicht für ihre Identität und Geschichte schämen. „Wie sich Musks Wahlempfehlung für die AfD konkret auswirken wird, ist nur sehr schwer einschätzbar“, hebt Experte Campbell gegenüber TRT Deutsch die Rolle von Musk hervor.
Adieu Brandmauer?
Ein weiterer einflussreicher Akteur aus den USA ist Vizepräsident J.D. Vance. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende sorgte seine Rede für erhebliche Unruhe in der deutschen Politik. In seiner ersten internationalen Rede als Vizepräsident erklärte Vance, die größte Bedrohung für Europa ginge nicht von einer militärischen Aggression durch Russland oder China aus, sondern von der Einschränkung der Meinungsfreiheit durch die EU-Staaten selbst – insbesondere durch deren Bestrebungen, rechtsextreme Parteien von der Regierungsverantwortung auszuschließen. „Es gibt keinen Platz für Brandmauern“, sagte Vance und fügte hinzu: „Wenn Sie aus Angst vor Ihren eigenen Wählern weglaufen, kann Amerika nichts für Sie tun.“ Nach seiner Rede hatte sich Vance mit Weidel in einem Hotel getroffen. Weidel und die AfD waren von der Konferenzleitung wie schon in den vergangenen beiden Jahren explizit nicht eingeladen worden.
Die Reaktion führender deutscher Politiker fiel – wenig überraschend – empört aus. Allen voran Bundeskanzler Olaf Scholz übte scharfe Kritik an Vances Rede. Die demokratischen Parteien in Deutschland hätten aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus „einen gemeinsamen Konsens: Das ist die Brandmauer gegen extrem rechte Parteien“, erklärte Scholz auf X. Auch CDU-Chef Friedrich Merz zeigte sich kritisch gegenüber den Äußerungen des US-Vizepräsidenten. „Das ist fast schon ein übergriffiger Umgang mit den Europäern, insbesondere mit uns Deutschen“, sagte Merz den Sendern RTL und ntv. „Das offizielle Deutschland wirkt ein wenig unschlüssig, was eigentlich die angebrachte Reaktion gegenüber den amerikanischen Wortmeldungen von jenseits des Atlantiks wäre. Deutschland muss eine gute Strategie entwickeln, und Akteure müssen eine Sprache finden, die entschieden, aber auch humoristisch ist“, kritisiert Campbell gegenüber TRT Deutsch die Haltung wichtiger Akteure in Deutschland.
Angesichts der jüngsten Entwicklungen – AfD potenziell zweitstärkste Kraft im Land, Ablehnung des Zustrombegrenzungsgesetzes und aktive Einflussnahme aus den USA auf den deutschen Wahlkampf – erscheint es fraglich, wie lange die Brandmauer zur AfD noch standhalten kann. Der Unmut in der Bevölkerung gegenüber den etablierten Parteien hat ein nicht mehr zu ignorierendes Ausmaß erreicht. Gleichzeitig wächst der externe Druck, der der AfD zusätzliche Legitimität verschaffen könnte.
Deutschlands ungewisse Zukunft im globalen System
Während Deutschland mit innenpolitischen Herausforderungen wie dem erstarkenden Rechtsextremismus, Migrationsproblemen sowie sozialen Fragen in den Bereichen Bildung, Rente, Gesundheit, Fachkräftemangel und Demografie zu kämpfen hat, bleibt auch die internationale Lage ungewiss. Gleichzeitig nähern sich die USA und Russland vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs wieder an, während der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Ankara Gespräche mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan führt. Zugleich muss die EU – und mit ihr Deutschland – zusehen, wie ihr internationaler Einfluss zunehmend schwindet.
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat die EU zunehmend Schwierigkeiten, Geschlossenheit und Entschlossenheit zu wahren. Besonders Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat wiederholt Widerstand gegen die Ukraine-Politik der EU geleistet. Auch die Wahl der Rechtspopulistin Giorgia Meloni im EU-Gründungsmitglied Italien ist ein Zeichen für den bröckelnden europäischen Zusammenhalt. Mit dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien in Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Deutschland nimmt die Instabilität der EU weiter zu – und das, obwohl diese Parteien in den jeweiligen Ländern noch nicht an der Regierung beteiligt sind. „Es wird immer schwieriger, eine gemeinsame europäische Position zu formulieren und zu verteidigen. Euroskepsis ist längst nicht mehr die konstruktive Suche nach besseren europäischen Lösungen, sondern die EU wird zunehmend als Teil des Problems dargestellt, delegitimiert und diskreditiert“, betont Brückner gegenüber TRT Deutsch und unterstreicht damit die wachsenden Sorgen um die Zukunft Europas. Auch Campbell äußert sich gegenüber TRT Deutsch in einem ähnlichen Ton und stellt sogar die Einheit der rechtspopulistischen Parteien infrage: „Marine Le Pen ist mit ihrem Rassemblement National (RN) die treibende rechtspopulistische Partei in Frankreich. Sogar für Le Pen ist die AfD zu weit rechts, deshalb beschloss der RN, die Zusammenarbeit mit der AfD im Europäischen Parlament zu beenden.“
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Deutschland in diesem Jahr nicht mit einer gewöhnlichen Bundestagswahl wie in den vergangenen Jahrzehnten konfrontiert ist. Die Welt befindet sich in einer Zeitenwende – und das deutsche Volk muss in diesem entscheidenden Moment eine richtungsweisende Entscheidung für seine Zukunft treffen. Die politische Landschaft hat sich grundlegend verändert – sowohl im Inland als auch auf internationaler Ebene. Der Rechtspopulismus hat in Deutschland Fuß gefasst. „Würde die AfD eine deutsche Bundesregierung übernehmen, könnte dies zu einem Auseinanderbrechen der EU führen, entweder aufgrund sich polarisierender Antagonismen oder weil ein AfD-geführtes Deutschland gleich direkt versuchen würde, aus der EU auszutreten“, ist sich auch Politikexperte Campbell sicher. Statt diese Realität zu leugnen, sollte die Politik Lösungen entwickeln. Andernfalls könnte das Land in einer Sackgasse landen, mit so vielen innenpolitischen Problemen, dass es im internationalen Vergleich zurückfällt.